Das Buch „Ideen um das Ende der Welt zu vertagen“ hat mich nicht nur aufgrund seines ungewöhnlichen Titels angesprochen. Der Autor Ailton Krenak ist ein indigener Umweltaktivist, der nach wie vor mit seiner Familie in einer indigenen Gemeinschaft lebt in der brasilianischen Region Minas Gerais. In Minas Gerais verbrachte ich ein Auslandssemester an der Universität von Juiz de Fora, an der Krenak Ehrenprofessor ist. Mein Interesse an indigener Bevölkerung hängt vorwiegend mit dem Buch „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ von Jean Liedloff zusammen, das ich letztes Jahr gelesen hatte. Das Buch ist überraschend kurz, denn es gibt lediglich den Inhalt eines Vortrags von Krenak in Lissabon auf 80 Seiten wider.
Ailton Krenak beginnt mit der Beschreibung wie Menschen die Erde und damit ihre eigene Lebens- und Ernährungsgrundlage zerstören. Für ihn, der sich als Teil der Natur spürt, wie alle anderen indigenen Menschen auch, ist dieses zerstörerische Verhalten der Menschheit nicht nachvollziehbar. Krenak vermutet, dass die Entfremdung von der Natur mit der Erfindung von Technik einherging. Krenak war niemals Teil einer modernen Kultur, immer nur Beobachter von außen und als solcher sieht er die Absurditäten unseres Daseins ganz deutlich: Geburten im Krankenhaus, Fremdbetreuung der Kinder und Fabriken des Irrsinns, wie er Schulen nennt. Nicht weniger absurd als die Zerstörung unserer Umgebung scheint ihm die Tatsache, dass Eltern ihr Recht auf Weitergabe von Wissen und Traditionen an die nächsten Generationen an den Staat abgegeben haben. Seine Hoffnung ist, dass sich Menschen durch die Pandemie darüber Gedanken machen, warum sie ihre Kinder in eine Anstalt namens Schule schicken und was da passiert. Ailton Krenak sieht also ganz deutlich, was in unserer Gesellschaft aus dem Ruder läuft. Er hat allerdings nicht die geringste Vorstellung, wie es dazu kommen konnte. Klar ist ihm, dass die Verbindung zur Natur in modernen Gesellschaften nicht mehr gegeben ist und dass es einer Rückverbindung bedarf, eines Bewusstseins, dass wir und Natur eins sind. Ein erzwungener nachhaltigerer Lebenswandel wird sicherlich nicht ausreichend sein.
Ich kann fast allem in diesem Buch zustimmen und dennoch bin ich enttäuscht, dass ich keinerlei neue Ideen zur Vertagung des Endes der Welt entdeckt habe. Ailton Krenak hat das Privileg in einem Naturvolk aufgewachsen zu sein und sich ganz selbstverständlich mit Tieren, Flüssen und Bergen unterhalten zu können. Die Gnade eines Perspektivwechsels hat er hingegen nicht erlebt, wie Jean Liedloff, die jahrelang mit Naturvölkern in Venezuela lebte. Sie lernte beide Welten kennen, sah ganz deutlich die Unterschiede und konnte Verhaltensweisen und Lebenseinstellungen ganz konkret an den Umständen des Aufwachsens der Kinder festmachen. Ailton Krenak kam lediglich zu der Schlussfolgerungen, dass die Veränderung der Umwelt den Menschen in der Stadtwohnung nicht auffällt und sie ihr Leben nicht unmittelbar beeinflusst im Gegensatz zu seinem Leben am verunreinigten Fluss. Er kann sich einigermaßen vorstellen, wie die Perspektive aus einer Stadtwohnung heraus ist, hat hingegen keinerlei Vorstellung wie es im Inneren eines modernen Stadtmenschen aussieht. Wie auch! Ich hätte nicht gedacht, dass ein Buch einer Frau aus dem Westen, die ähnlich wie ich aufgewachsen ist, um ein Vielfaches aufschlussreicher sein kann als das Buch eines Mitglieds eines Naturvolks. Das Wertvolle entsteht wie so oft daraus, beide Seiten selbst erlebt zu haben. Das Buch hat meine – vielleicht zu hohen – Erwartungen leider nicht erfüllt.
Was sie Bildung nennen, ist in Wirklichkeit eine Beleidigung der Gedankenfreiheit.
Ailton Krenak
Vielen Dank an den btb-Verlag für das Rezensionsexemplar.